IQS Lecture «Mit dem Kostüm ihres Geschlechts»

Transvestismus in Mary Robinsons Walsingham; or, The Pupil of Nature (1797) und Christoph Martin Wielands „Novelle ohne Titel“ (1805)

16. Oktober 2014, 19.00 Uhr, Universität Zürich, Rämistrasse 71, 8001 Zürich, Hörsaal KO2 F 150

Penelope Paparunas (Universität Zürich)

Die Jahrhundertwende um 1800 ist gekennzeichnet durch tiefgreifende soziokulturelle und politische Umwälzungen, die nicht nur bis anhin gültige Referenzsysteme wie ‚Gott, König, Staat’ nachhaltig hinterfragen, sondern auch Identitätskategorien wie Geschlecht, Rasse oder Klasse neu aushandeln. Dieser epistemische Bruch (Foucault) hinterlässt nicht zuletzt Spuren in Form von Unruhe im kulturellen Imaginären; ein Unbehagen, das auch in der Literatur ausgefochten wird. Mary Robinsons Walsingham; or, The Pupil of Nature (1797) und Christoph Martin Wielands „Novelle ohne Titel“ (aus Das Hexameron von Rosenhain, 1805) sind zwei von der Forschung wenig berücksichtigte Texte mit einer überraschend ähnlichen Handlung, nämlich einer Frau in Männerkleidern auf Grund erbschaftsrechtlicher Interessen – das patriarchal-aristokratische Erbschaftsrecht begünstigt männliche gegenüber weiblichen Nachkommen – und lassen sich mit ihrer Thematisierung von vestimentärer Überschreitung als kulturelle Intervention im heftig umkämpften zeitgenössischen Geschlechterdiskurs lesen. Diese vestimentäre Transgression ist umso bedeutender, als sie zu einem Zeitpunkt stattfindet, in dem der Spielraum für subversive Geschlechterkonfigurationen kleiner wird und sich die binäre, bürgerliche Geschlechterordnung zu installieren beginnt (Laqueur, Honegger, Wahrman). Beide Texte inszenieren dieses ‚gender trouble.’ Anatomisches Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren korrelieren auf ungewöhnliche Weise; generiert werden nichtintelligible, transgressive, verworfene, queere Körper und Subjekte (Butler, Kristeva). ‚Queere Subjektivitäten’ um 1800, wenn auch bezüglich des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses deutlich zu unterscheiden von denjenigen des 21. Jahrhunderts ( vgl. z.B. Lady Gaga, Conchita Wurst, Eugenides’ Middlesex etc.), werfen zum Teil durchaus vergleichbare Fragestellungen auf wie mit nicht-heteronormativer Geschlechtsidentität jeweils umgegangen wird und geben Aufschluss über In- und Exklusionmechanismen der symbolischen Ordnung. Während in Robinsons Briefroman die Inkohärenz und Diskontinuität von Geschlechteridentität auf verschiedenster Ebene wiederholt ausgestellt wird, aber schliesslich in einer konventionellen, heterosexuellen Verbindung (Heirat) mündet, scheint Wielands Erzählung trotz der freiwillig ins Kloster eintretenden transvestierenden Protagonistin paradoxerweise radikaler. Dies nicht nur, weil die Geschlechtermaskerade der weiblichen Hauptfigur aufgrund ihrer tiefen Stimme und dem breiten Knochenbau so überaus erfolgreich ist, sondern, weil das komplexe Ende der Novelle zu einer Debatte über Genre und Geschlecht in der Rahmenerzählung anstiftet, damit Taxonomien des (Un)natürlichen, (Nicht)verhüllten ins Spiel bringt, konterkariert. Der Kampf um Bedeutungen, was denn eigentlich eine Frau oder ein Mann sei und ausmache, dauert auch im 21. Jahrhundert weiterhin an, weshalb es qua genealogischem Blick gewinnbringend erscheint, nebst bekannten zeitgenössischen kontroversen Figuren (wie den erwähnten Lady Gaga oder Conchita Wurst) insbesondere auch ältere kulturelle Texte und deren Auseinandersetzung mit nicht-normativem Begehren zu betrachten und sie mit der Gegenwart in Verbindung zu setzen.


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